Man nehme einen Autor samt Laptop, setze ihn einige Stunden experimenteller Musik aus und lade das Ergebnis im Anschluss ungeschönt ins Netz! Selmar Schülein wird im Kesselhaus ‚klangstabieren‘. Das heißt, er schreibt live am Ort des Geschehens. Jedoch nicht über die Konzerterfahrungen, sondern frei zu ihnen.

Literatur, die in Soundart ihren Anfang nimmt. Aus akustischem Eindruck wird verbaler Ausdruck. Gänzlich ohne mitgebrachte Notizen, ohne vorgefertigte Ideen, vom ersten bis zum letzten erklingenden Ton.

Im Laufe dreier Festivalabende (2.7., 7.7 und 14.7.) entsteht so eine komplette Erzählung aus dem Nichts.

Wie zerkleinert man ein Kreuzfahrtschiff?

 

2. Juli 2019 – Pedro Sousa

 

Ich hatte nie etwas für Vandalismus übrig. Vor dieser Kreuzfahrt hätte ich mich eigentlich eher als einen gemäßigten Zeitgenossen bezeichnet.
Vergangenen Winter hatte ich einem Psychologen-Freund den Gefallen getan, bei einem seiner Selbstfindungs-Seminare teilzunehmen. Eine letzte Anmeldung hatte damals gefehlt, um die Veranstaltung stattfinden lassen zu können. Am ersten Tag mussten wir unsere Aggressionen auf einer Skala verorten. Ich hatte mir damals zwei von zehn Punkten gegeben. Und das nur, weil mir der absolute Niedrigstwert von einem Punkt vermessen vorgekommen wäre.
Bei dem vielleicht impulsivsten Moment meines Lebens, gut 20 Jahre vor dieser Kreuzfahrt durch die norwegischen Fjorde, hatte mich meine Mutter erwischt: Gerade, als ich ein Brötchen im Baseball-Style gegen die Küchenwand pfefferte, war sie hereingekommen. Tatsächlich war es damals aber keine Wut gewesen, die zu diesem dadaistischen Akt geführt hatte.
Dass ich vor sechs Tagen als Passagier auf die Polar Queen gestiegen war, hatte ähnlich wenig mit dem Wunsch nach Urlaub zu tun, wie das Brötchen damals aus Aggressionen heraus gegen die Wand geflogen war. Pedro, der in Jugendjahren anscheinend der Austauschpartner meiner Freundin gewesen war, hatte die Idee eines Schüleraustausch-Revivals gehabt: So viele Ehemalige wie möglich auf einer Kreuzfahrt versammeln! Zwei Wochen an einem Ort, von dem man nur mit Rettungsbooten flüchten konnte. Nichts als diese hollywoodreife Exit-Option, wenn man nach dem ersten Abendessen mit Berufs- und Familienupdates merkt, dass man diese Gesellschaft keinen Tag länger ertragen kann.
Ich hatte unvorsichtigerweise eingewilligt, da ich das Vorhaben ohnehin zum Scheitern verurteilt sah. Zwei Wochen später lagen dann die Tickets bei uns im Briefkasten.
Das unaufhaltbare Etwas – ich weiß nicht, wie ich es besser beschreiben soll – fing bei meinem ersten Gang auf die Toilette unserer Schiffskabine an. Die Halterung der Klopapierrolle war locker. Ich begann an der Schraube herumzuspielen und entwickelte schnell einen ungeheuren Ehrgeiz, dieses Teil von der Wand zu entfernen. Diesem Drang widersetzte sich allerdings die zweite Schraube, die wie eingedübelt saß. Ich versuchte es sogar mit den verschiedensten Schlüsseln an meinem Bund, ruckelte und riss an der halb herunterhängenden Halterung bis die Wand nachgab. Endlich hielt ich das Teil also in meinen Händen – die Klopapierrolle hatte sich in der Zwischenzeit verselbständigt und fast gänzlich abgerollt.
Für einen kurzen Moment durchströmte mich eine weihnachtsähnliche Freude, wie ich sie aus Kindheitstagen kannte, wenn ich ein Geschenk endlich in die Hände gelegt bekam und aufreißen durfte. Und eigentlich hätte es mich am zufriedensten zurückgelassen, das Bad in diesem Zustand zu verlassen, wenn da nicht …

07. Juli 2019 – Susanna Gartmayer und Tom Bodlin

… die Kürze meiner bisherigen Beziehung mit Susanna gewesen wäre.
Entweder war unsere Beziehung noch nicht zu dem Punkt gelangt, an dem ein verwüstetes Badezimmer keinen außergewöhnlichen Erklärungsbedarf mit sich brachte, oder wir hatten den Punkt verpasst, auch solche Verhaltensweisen zum Teil unserer Beziehung zu machen, die nicht ausschließlich darauf ausgelegt waren, dem Partner zu imponieren.
Ich rollte das Klopapier also fein säuberlich auf und überlegte mir in der Zwischenzeit eine Ausrede, warum ich mich beim Abendessen derart hatte verspäten müssen. Wie zu Schulzeiten zog ich der wasserdicht-plausiblen Ausrede stets eine Absurdität vor und freute mich regelrecht darauf, die Ausrede zum Gesprächseinstieg nutzen zu können.
Als ich mich in meinen Anzug zwängte und mir dabei wie ein Konfirmand beim Cheese-Rufen für ein Gruppenfoto mit unbekannten Verwandten vorkam, stieg erstmals diese unerklärliche Hitze in mir auf. Ich hatte den Dreiteiler auf Anraten Susannas eingepackt, nachdem sie sich zunächst über die diversen Dresscodes für verschiedene Bereiche und Aktivitäten auf so einem Kreuzfahrtschiff lustig gemacht hatte, dann aber gleich mehrere Abendkleider bereitgelegt hatte.
Bereits beim Zuknöpfen des Hemds merkte ich, dass ich heute derart darin schwitzen würde, dass ich mich vor möglichem Sex im weiteren Verlauf des Abends unausweichlich duschen müsste. An diesem ersten Abend auf See mutmaßte ich noch, ob vielleicht etwas mit der Klimatisierung des Schiffs nicht stimmte. Hätte ich die Kleidung fürs Abendessen nach meinem Temperaturempfinden gewählt, es hätte einen Fall von Exhibitionismus auf der Polar Queen. Ob es wohl schon mal eine FKK-Kreuzfahrt gegeben hat?
Als ich den Speisesaal betrat, war sofort klar, dass meine Ausrede heute keine Abnehmer finden würde. Sie saßen wieder an dem opulenten runden Tisch – im Zentrum unter der Glaskuppel – und fühlten sich offensichtlich auch wie der Mittelpunkt von irgendwas Großem. Gleich am ersten Abend hatte unsere Reisegruppe diesen Platz in Beschlag genommen, wie anderswo Strandliegen mit Handtüchern reserviert werden.

14. Juli 2019 – Ornamentrauschen

Ich überlegte kurz, ob ich mich einfach am Buffet bedienen und den Teller nach draußen schmuggeln sollte, um an dem einzig erträglichen Ort des Schiffes zu Abend zu essen. Tatsächlich war das Deck in all den Tagen der Fahrt derart menschenleer gewesen, dass es wahrscheinlich keiner bemerken würde, wenn der Kapitän nur in einem einzigen Fjord umherkreisen würde.
Ich erinnerte mich ein weiteres Mal an das Selbstfindungs-Seminar meines Freundes und entschied mich für Liebe als Notfallstrategie. Wir hatten damals unsere schlimmsten Begegnungen vor allen ausgebreitet, um sie nochmals erleben zu dürfen. Ein Rollenspiel, in dem wir die alten Konflikte und Verletzungen in Rollenspielen nachstellten, um ihnen so zu begegnen, als bekämen wir statt Wut und Enttäuschung eine Fußreflexzonenmassage.
Ich begab mich also an den Tisch, wurde angenehmerweise kaum wahrgenommen, da die Anekdoten aus Zeiten des Schüleraustauschs bereits so an Fahrt aufgenommen hatten, dass ein externer Begleiter allenfalls Ornamentrauschen in diesem Getöse gegenseitiger Überbietungen sein konnte.
Susanna saß neben Pedro und Bodlin. Sie hatte mich zwischen zwei Lachanfällen mit einem Kopfnicken an den letzten freien Platz verwiesen. Ich erwiderte ihr Desinteresse mit einem Lächeln, als hätte sie mir einen Kuss durch die Luft gepustet. Das Essen ging direkt in das erste Besäufnis über – an den folgenden Tagen der Fixstern dieser Fahrt, so zuverlässig, dass man danach durch Stürme hätte navigieren können. Jedes Mal wurden wir von dem Kellner in Tag für Tag abnehmender Höflichkeit rausgeworfen, da der Speisesaal leider schließen müsse. Gefolgt von Verhandlungen, die eine Verlaufskurve von Humor über Nörgeleien bis hin zu Dreistheit zeichneten.
Immerhin: Ich hatte meine Kleidung an den Folgetagen der Stimmung anpassen können und war fortan nur noch in Badeshorts unterwegs, während der Rest der Truppe die eigens für den Polarkurs erworbenen Daunenjacken trug, die den Oberkörper der Jackenträger auf das dreifache Volumen anschwellen ließen. Mit jedem Tag war mir derart heißer geworden, dass ich nachts mehrfach mit dem Gedanken gespielt hatte, das Fenster der Schiffskabine einzuschlagen. Tatsächlich war ich in Gedanken so nah dran, dass ich mir nur noch den Kopf darüber zerbrach, wie ich es im Nachhinein als Haftpflichtfall behandeln können würde.

14. Juli 2019 – Tomaga

Warum erzähle ich das alles überhaupt: Ich habe begonnen dieses Schiff zu zerlegen. Nicht absichtsvoll. Zunächst zumindest. Vielleicht bezeichne ich das, was sich in den vergangenen Tagen zwischen mir und der Polar Queen abgespielt hat, auch nur so drastisch, um herauszufinden, ob es wirklich sein kann. Manche Entscheidungen muss man erst treffen, um herauszufinden, ob sie richtig sind. Probehalber entscheiden. Ich hatte nie etwas für Souvenirs übrig. Gut, einmal habe ich Moos aus den Highlands mitgebracht und an meine Wohnzimmerwand geklebt. Jetzt habe ich diese beiden Schiffskabinen voller Souvenirs. Obwohl ich die natürlich nie mit nach Hause werden nehmen können. Allerhand abmontiertes und herausgerissenes Zeug habe ich da angehäuft. In zwei Zimmern gebunkert, die nicht gebucht worden sind. Ich hatte die Reinigungskräfte dabei beobachtet, wie sie die beiden Zimmer Tag für Tag konsequent ausließen. Auch das hatte sich nicht so ergeben, wie ich mir Einbruch klassischerweise vorgestellt hatte. Als Kind hatte ich einmal ausprobiert, wie leicht sich eine Tür mittels Bodycheck aufbrechen ließ. Völlig unmöglich natürlich. Für die Türen der Schiffskabinen hatte ich zwei Kreditkarten und den vergilbten Studentenausweis zerstört, der nach all den nostalgischen Jahren im Geldbeutel nochmal hatte aufbegehren dürfen. Letztlich war es eine Frage der Technik gewesen: Die Plastikkarte oberhalb des Türknaufs längs in den Spalt stoßen und mit einem kontrollierten Schlag nach unten durch rammen. Dann Trampolin auf den Betten. Spiegelklirren. Und zuletzt