Es gibt eine Straße in Kassel. Diese Straße heißt (noch) Holländische Straße. In eben dieser Straße wurde Halit Yozgat geboren und ermordet. In Coburg gibt es auch eine Straße, die Von-Schultes-Straße hieß. Diese Straße heißt heute Max-Brose-Straße. Warum werden in Deutschland Straßen umbenannt? Klar war, dass nach 1945 schnell die Namen Göring-Allee und Hitlerplatz getilgt werden mussten. Eine fortlaufende Hinterfragung von Namensgebern für öffentliche Räume geschieht nicht allerorts. Eine Kontextualisierung und kritische Prüfung der städtischen Umgebung mit dem gegenwärtigen Zeitgeschehen offenbart sich als Farce, wenn man die massenhafte Existenz der Mahnmale für die gefallenen deutschen Helden von 1914 bis 1945 sieht. Wie kann einem Vergessen von Verbrechen entgegengewirkt werden, wenn nicht einmal die Thematisierung der Verbrechen aus der sich entfernenden Vergangenheit konsequent vollzogen wird? Die Auseinandersetzung und das Erinnern an die Verbrechen des NSU wird auch auf eine andere Weise vollzogen: nicht (nur) durch die Schaffung fester Mahnmale sondern durch die Präsentation von Erinnerungen und Schilderungen von Betroffenen der NSU Morde. Die Bühne für Menschenrechte schuf ein dokumentarisches Theaterstück, welches vielerorts von immer wechselnden Schauspielensembles gespielt wird. In den NSU Monologen wurde Material aus Interviews mit den Hinterbliebenen der NSU Morde gesammelt, sortiert, verdichtet und verdichtet. Es entstand ein Theaterstück, welches das Leid der verhörten Angehörigen und die verschleiernde Aufklärung der Neonaziverbrechen durch die deutsche Legislative und Exekutive offenlegt. Der neue Realismus auf der Bühne offenbart im Fall der NSU Monologe die Geschichten, die zu selten die Öffentlichkeit erreichen. Vier Schauspieler*innen: Aline Joers, Elena Weber, Olga Seehafer und Bariş Tangobay begleitet von Carola Streib am Cello spielten die Monologe im Rahmen des FK:K-Festivals in Bamberg. Es wurde in neunzig Minuten ein Teppich der Erzählungen in den Raum gerollt, welcher das Nagelbrett der jüngeren deutschen Geschichte darstellt. Falsche Aufklärung, behördlicher Rassismus und das deutsche Gewissen mit dem schwarzen Horizont der NS-Vergangenheit im Hintergrund wurde auf die Bühne gebracht. Das mucksmäuschen stille Publikum nahm an dem Prozess, welcher der Verbrechensvereitelung gemacht wurde teil. Leichte Schlieren in den Augen durch die Tränen ließen die fünf verschwimmen und die Stimmen blieben im Raum stehen. Eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit muss fortlaufend geschehen. Die Vergangenheit liegt nicht ausschließlich siebzig Jahre zurück. Es gab eine Nazi Zeit. Es gibt eine Neonazi Zeit! „Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“ (Walter Benjamin) Dieser Engel steht heute in der Kasseler Holländischen Straße. Der Sturm soll bleiben und die Straßenumbenennung herbeiführen. Der Sturm soll bleiben und am Tag X, der Urteilsverkündung in München keinen Schlussstrich ziehen! Der Sturm soll bleiben.